„Der Anlass für Gründung des Vereins, so erzählte man mir, sei der Tod von Egon Scotland gewesen. In Stunde des Ablebens trug Kollege Scotland in seiner Brusttasche ein Gedicht, in dem es hieß, dass auch in Krieg nur Menschen sterben, die jemanden Ehemann oder Bruder, Vater oder Sohn sind... So ein Gedicht trug Egon Scotland in seiner Tasche. Ich möchte mit meiner Rede dieser Tatsache Rechnung tragen.
Unwirklichkeit ist die ausgeprägteste wenn nicht die einzige Eigenschaft der Hölle, behauptete Emanuel Swedenborg. Wer in der Hölle aufwacht, erkennt sein irdisches Zimmer wieder samt allen vertrauten Gegenständen seiner ehemals nächsten Umgebung: Sein Tisch ist da, seine Brille und sein Füllfederhalter darauf. Daneben steht sein Sofa und auf kleinem Tisch vor dem Sofa, liegt das von ihm gelesene Buch. Erst nach und nach merkt er, dass diese Gegenstände keine Schwere und keine beständige Form, keine Wärme und keinen greifbaren Körper mehr haben. Nach und nach bemerkt er, dass auch er nichts von all dem mehr hat: Alles sieht nur aus, wie einst im Leben
auf Erden, aber dieses Aussehen bleibt die einzige Eigenschaft dieser Welt und ihrer Bestandteile.
Wenn er seine Brille aufzuheben versucht, verschwindet sie, wenn er seine Stirn berühren will, verschwindet seine Hand oder seine Stirn samt Kopf. Als ob die Hölle aus reinen Ideen und Begriffen bestünde, aus Sachen also die man verstehen , aber nicht begreifen kann.
Gedanken über swedenbrogsche Hölle gingen mir stets durch den Kopf während des Krieges in meinem Land Bosnien, denn ich fühlte mich in die reine Unwirklichkeit einer Hölle versetzt. Bereits vor dem Ausbruch des Krieges war im öffentlichen Diskurs bei uns vor allem über Nationen und Religionsgemeinschaften die Rede. Einzelne Personen und Einzelschicksale schien es aber überhaupt nicht zu geben.
Im Krieg wurde aber dieses Verschwinden des Einzelnen und Konkreten im allgemeinen Konstrukt noch radikaler und deutlicher. Und dann fing der Westen an, Bosnien zu ähneln: Die westlichen Politiker und Medien haben mit einer geradezu erschreckenden Geschwindigkeit die Rhetorik unserer Führer übernommen: Der Krieg in Bosnien ist Anfang April 1992 ausgebrochen, und schon im Mai 1992 war in der öffentlichen Wahrnehmung auch im Westen, also in Medien, in den Äußerungen politischer Autoritäten, in öffentlichen Diskussionen fast ausschließlich von Serben, Kroaten und Muslimen/Bosniaken die Rede. Im öffentlichen Diskurs über Bosnien gab es keine einzelne Menschen mehr, keine Bürger und Namen, keine Körper und Einzelschicksale – und dabei starben in Bosnien, wie überall wo gestorben wird, nur einzelne Menschen. Denn damit man sterben kann, muss man einen lebendigen Körper und ein Gesicht haben, dazu muss man eine Mutter und einen Vater wenigstens gehabt haben. Ein lebendiger Mensch, einer der sterben kann, kombiniert also Zugehörigkeit (Mutter und Vater) und Einmaligkeit (Körper und Gesicht).
Wir in Bosnien wurden aber in der Wahrnehmung der anderen hartnäckig auf reine Zugehörigkeit reduziert bzw. in das Abstrakte vertrieben.
In diesen Tagen dachte ich stets an Swedenborg, aber ich fand keinen Gesprächspartner, dem ich meine Gedanken dazu mitteilen könnte: Leute, die mit mir zusammen in Sarajevo gelitten haben, wussten auch ohne mich, dass wir Menschen wirklich und einzeln sind, solange man uns umbringen kann, und die anderen, die nicht mit uns gelitten haben, die wollten sowieso nur meine Zugehörigkeit wahrnehmen. So blieb mir nur mein Körper als Argument gegen die Hölle, als Beweis dass ich doch wirklich bin. Und gerade dieser Körper war von allen Seiten und vielfältig gefährdet durch Granaten und Scharfschützen, Hunger und Kälte, Wassermangel und Ermüdung, so dass ich aus guten und ganz offensichtlichen Gründen an den Argumenten zweifeln musste, die mir meine Wirklichkeit beweisen sollten.
So verschwand ich immer mehr in der öffentlichen Wahrnehmung, die mich und meine Welt in ein Bild verwandelte, das nur durch totale Vereinfachung ermöglicht wurde. Ich verstehe ja, dass man einen wirklichen Stand der Dinge vereinfachen muss, wenn man ihn beurteilen und sich seines Urteils sicher sein will. Aber die Vereinfachung, die an uns durchgeführt wurde, ging in die absolut falsche Richtung: Sie verallgemeinerte, statt zu konkretisieren, sie entfernte den Beobachter und Berichterstatter von einzelnen Menschen und ihren Schicksalen, statt sie ihm näher zu bringen. Denn in einzelnem Menschen ist die Menschheit schon vorhanden, in der Menschheit fließt aber kein warmes Blut, sie hat weder ein Gesicht noch einen schweren Körper, der Durst leiden oder Sehnsucht spüren könnte. Was im wirklichen Leben einer Gesellschaft von sich geht, kann man viel besser und präziser anhand eines konkreten Menschenschicksals begreifen und mitteilen, als anhand eines abstrakten Konstruktes, das auf Verallgemeinerungen zählt und zielt.
Die am weitesten verbreitete Deutung der Ereignisse in Bosnien besagt, dass dort ein ethnisch-religiöser Krieg stattgefunden hätte, und dass Sarajevo dreieinhalb Jahre von Serben belagert und beschossen wurde. Diese Deutung gründet auf der Vereinfachung, die das unmittelbar Gegebene also das Wirkliche einer Verallgemeinerung, einem Begriff oder einem Konstrukt unterordnet. Auf dieser Vereinfachung gründete bekanntlich auch ein Großteil der Berichterstattung aus dem bosnischen Krieg und gerade die Berichterstattung hat das Bild eines ethnisch-religiösen Kriegs so weit verbreitet. Ich ziehe eine Vereinfachung vor, die in entgegengesetzte Richtung ginge, eine Vereinfachung also die sich auf das unmittelbar Gegebene, auf das Konkrete fokussiert. So eine Berichterstattung würde etwa auch über meine nächste Nachbarin Petrojka berichten, gerade weil sie das schon entstandene Bild des Krieges und der Ereignisse in Frage stellt. Petrojka kam Anfang der sechziger Jahre aus der serbischen Stadt Cacak nach Sarajevo und blieb dort bis heute, auch während des Krieges. Denn sie hat in Sarajevo ihr Zuhause, ihren Ehemann, die Grabstätte ihres Sohnes. Das alles verlässt man nicht, wenn man weiter leben will. Ich kenne dutzende Serben die, wie Petrojka, während der Zeit des Krieges in Sarajevo ausgeharrt haben, und mehrere Dutzend sind mir vom Hörensagen bekannt. Bis Ende des Jahres 1992 lebten in Sarajevo sicherlich 50000 Serben, die sehr wohl in ihrer Stadt leben wollten. Eine Berichterstattung, die sich auf diese und ähnliche Fälle konzentrierte und Krieg durch Prisma dieser Fälle betrachtete, würde offensichtlich ein ganz anderes Bild und eine ganz andere Deutung des Krieges formulieren: In diesem Bilde wäre der bosnische Krieg eine ultrakonservative Revolution, die die Gesellschaft weitgehend refeudalisieren will.
Es versteht sich von selbst, dass auch dieses Bild der Zeit 1992-1995 in Bosnien eine Vereinfachung wäre, denn der Krieg in Bosnien hatte zweifelsohne auch Elemente einer ethnisch-religiösen Auseinandersetzung.
Aber diese Vereinfachung stünde dem alltäglichem Leben unserer Gesellschaft jener Zeit viel näher als jene, die durch Verallgemeinerungen entstanden ist, und sie würde viel mehr den konkreten wirklichen Menschen gerecht. Sie würde ihr Leben schildern und nicht es einem Konstrukt anpassen wollen.
Das erklärt den zweiten wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Formen der Berichterstattung. Ein Journalist, der über einzelne konkrete Menschen und Ereignisse schreibt, wäre sich seines Urteils und seines Wissens weniger sicher als sein Kollege, der mit Allgemeinbegriffen operiert. Denn sicheres Wissen gibt es nur in Abstraktem, das sicherste ist das mathematische Wissen, weil es in der Mathematik weder Leben noch Wirklichkeit gibt und geben kann. In der körperhaften Wirklichkeit sind Urteile immer mit etwas Skepsis verbunden, weniger klar und scharf als es die Urteile sind, die im Zusammenhang mit einem konstruierten Modell fallen... Literatur und Journalismus bzw. die mir nahe stehende Form des Journalismus formulieren und vermitteln das Wissen über konkrete Menschen in ihren alltäglichen Leben und Schicksalen. Insofern stellen Literatur und eine Form von Journalismus, eine Alternative zum mathematischen Denken dar. Sie sind keine Konkurrenz, sondern eine Alternative, denn literarisches und journalistisches Wissen sind einfach anders als das mathematische oder ideologische, beinahe gänzlich anders. Um ihrer Aufgabe gerecht zu werden, brauchen Literatur und Journalismus Mut zur Skepsis, zum Fragen, zur Unsicherheit, denn wo es keine Unsicherheit gibt, herrscht reine Notwendigkeit und gibt es dem zufolge keine Freiheit.
Literatur und Journalismus pflegen Skepsis und das Fragen als Alternative zu wissenschaftlichem und ideologischem Wissen, die für sich absolute Sicherheit beanspruchen. Literatur und Journalismus bieten noch Fragen an, in einem Zeitalter in dem es nur noch Antworten, und zwar offensichtlich nur noch endgültige Antworten gibt.
Im November 1993 habe ich Gelegenheit gehabt meine Meinung zur „westlichen Wahrnehmung“ Bosniens skeptisch zu überprüfen und gründlich zu relativieren. Ich kam als Stipendiat des Kulturamtes der Stadt München nach Feldafing und lernte einige Journalisten in München kennen. Keiner von ihnen entsprach meinem Bild vom "westlichen Journalisten", einem Bild, das aufgrund meiner Erfahrungen mit zahlreichen Journalisten in Sarajevo entstanden ist.
Keiner von den Münchener Journalisten, die ich damals kennen gelernt habe, hat Interesse für meine Zugehörigkeiten an Tag gelegt, keiner hat je nach Verallgemeinerungen gegriffen und ideologischen Bilder zu konstruieren versucht, keiner von ihnen hat Objektivität mit Neutralität oder gar mit Gleichgültigkeit gleichgesetzt. Sie alle fühlten sich von meiner krankhaften Liebe zu Tschechov und Büchner mehr angesprochen als von meiner Herkunft, und ein jeder von ihnen hat mehr Interesse für meine mehr schlecht als recht funktionierende Schreibmaschine gezeigt als für komplizierte "Zugehörigkeitenstruktur" meiner Familie. Ein jeder hatte sehr wohl eigene Vorstellungen vom Krieg in Bosnien, alle sprachen darüber lange und leidenschaftlich, aber ein jeder, so wie auch ich, hatte in seinen Beiträgen zu den Gesprächen viel mehr Fragen als Antworten formuliert...“